Mittwoch, 15. August 2012

Leseprobe

Sie griff mit beiden Händen in ihre tiefbraunen langen Haare im Nacken und zwirbelte sie am Hinterkopf zu einer Hochfrisur. Mit prüfendem Blick betrachtete sie sich im Spiegel.
»Ja, das ist es! Ich werde meine Haare hochstecken. Vielleicht mit ein paar Perlen in kleinen, geflochtenen Dekozöpfen? Bei Sissi hat das auch gut ausgesehen!«
Sie lächelte verschmitzt. Dann entfernte sie sich ein wenig von dem langen Spiegel, der an einem Ständer auf dem Boden stand und ihre Figur komplett widerspiegelte.
»Ich kann doch wirklich zufrieden sein! Was für ein schöner Stoff.« Sie löste den Griff aus ihren Haaren, so, dass diese wieder locker auf ihre schmalen Schultern fielen. Als Kind hatte sie ihre Locken gehasst. Unordentlich hatten sie sich immer um ihren Kopf gelegt. Und kaum war sie mal ins Schwitzen gekommen, wurden sie auch noch kraus. Doch jetzt, dank Haarspray, Creme und diverser anderer Utensilien, konnte sie sich im Handumdrehen eine Frisur zaubern, um die sie manch andere Frau beneidete. Ganz ohne Dauerwelle. Sie wandte ihren Blick von den Haaren ab und lenkte ihn auf ihre Figur. Rank und schlank, mit den richtigen Rundungen an den passenden Stellen, gab es auch an dieser wahrlich nichts auszusetzen. Das hatte Frank auch so gesehen – und seine bisherige Freundin für sie einfach stehengelassen.
»Carmen, Du bist die glücklichste Frau der Welt«, sagte sie zufrieden zu sich selbst und lächelte in den Spiegel. Dabei strich sie sanft über ihren Bauch, der sich schon bald mehr wölben würde.
»Das ist mein schönstes Hochzeitsgeschenk.« Sie dachte über ihr süßes Geheimnis nach. »Heute werde ich es Frank sagen«, nahm sie sich fest vor. Gott sei Dank war die Hochzeit bereits in zwei Wochen. Daher würde es mit dem Kleid wegen des wachsenden Bäuchleins noch keine Probleme geben. Sie drehte sich um, so dass sie ihren Rücken betrachten konnte. Dabei raschelte die Seide, weil sie bei der Drehung auf dem Boden schleifte.
»Ich muss den Rock noch etwas kürzen, dann ist alles in Ordnung«, überlegte sie mit Blick auf den zu langen Saum, der auf dem Boden aufsaß. Sie freute sich über den tiefen Ausschnitt am Rücken, der den Blick auf ihr kleines Muttermal auf dem rechten Schulterblatt freigab. »Ein richtiger Schönheitsfleck wie zu Zeiten des Sonnenkönigs«, amüsierte sie sich. Sie fasste an beiden Seiten mit den Händen den Rock des Hochzeitskleids, hob ihn in die Höhe und drehte sich übermütig vor dem Spiegel. Dabei lachte sie fröhlich. »Ich bin ja sooooo glücklich«, jubelte sie und beendete ihren privaten Reigen, etwas atemlos vom Herumwirbeln. Dabei fiel ihr Blick auf die Uhr an der Wand über dem Spiegel.
»Oh weh, schon so spät! Jetzt aber schnell!« Flink bückte sie sich und zog sich den Traum aus Seide vorsichtig über den Kopf.
Sie ließ das Kleid sanft auf den Boden gleiten, um es dann schnell provisorisch zusammenzufalten und in eine riesige Tüte zu packen. Flugs stieg sie in ihre Jeans und schlüpfte in ihren Pullover. Nebenher angelte sie sich ihre Winterstiefel und zog auch diese an.
»Ich bin spät dran, aber sie werden mir verzeihen«, war sie sich sicher. Schnell lief sie mit der Tüte in der Hand in den Flur, griff sich ihre Handtasche, streifte die Jacke über und legte sich beim Verlassen der Wohnung noch etwas ungelenk den Schal um den Hals. »Ich bin auf Franks Reaktion gespannt«, überlegte sie, was wohl ihr Verlobter zur Schwangerschaft sagen würde. Seine Eltern würden bestimmt ganz aus dem Häuschen sein! Das erste Enkelchen! Und ihre Eltern erst. Papi hatte dann endlich Nachkommen für seinen Namen. Denn diesen würde sie auch mit der Heirat nicht aufgeben. Schließlich stand Goldbauer für Qualität in Schwäbisch Gmünd.
Als sie die Treppe hinuntergehüpft war, öffnete sie die schwere Haustür aus Holz und trat ins Freie. »So ein Sauwetter«, brummelte sie vor sich hin, als sie in Richtung Remsdeck zu ihrem Auto eilte und den feinen Nieselregen im Gesicht spürte.
Ängstlich presste sie die große Tüte mit dem Brautkleid darin an ihren Körper. Seide und Nieselregen vertrug sich überhaupt nicht. Beim Auto angekommen, öffnete sie das Schloss mit der Fernbedienung, machte die Fahrertür auf und ließ sich eiligst auf dem Sitz nieder.
Die große Tüte mit dem Brautkleid platzierte sie vorsichtig im Fußraum des Beifahrersitzes. »Mal sehen, was meine Damen in der Gewandmeisterei dazu sagen.« Sie war schon gespannt auf deren Gesichter beim Blick auf den traumhaften Stoff. Der raffinierte Schnitt, der ihre schlanke Silhouette besonders vorteilhaft unterstrich, stammte aus einem französischen Modemagazin. Und war für sie, die mit der Nähmaschine besser umgehen konnte als mit dem Kochlöffel, ein Klacks gewesen. Nicht einmal bei der Hochzeits- und Trendmesse im Stadtgarten, wo es wirklich eine riesige Auswahl an Modellen gegeben hatte, war ein solches Kleid dabei gewesen. Glücklich steckte sie den Autoschlüssel in die Zündung und warf nochmals einen Blick in die Tüte.
»Ein Traum. Ich könnte sterben vor Glück!«, ging es ihr durch den Kopf. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass zumindest ein Teil dieser Gedanken in den nächsten Minuten Realität sein würde. Das heftige Klopfen an der Scheibe der Fahrertür ließ sie hochschrecken und herumfahren. Durch die Regentropfen, die die Scheiben ringsum benetzten, und die draußen herrschende Dunkelheit, konnte sie nicht erkennen, wer geklopft hatte. Auch als unvermittelt die Tür aufgerissen, sie grob aus dem Auto gezerrt und auf den Boden geworfen wurde, konnte sie den Angreifer nicht erkennen. Ihr Lächeln, das noch im Auto ihre Lippen umspielt hatte, erlosch.
»Was soll das …?« Mehr hatte sie nicht mehr sagen können, denn ihr Kopf wurde grob auf den Boden gedrückt. Ihre Nase schmerzte, und sie bekam kaum mehr Luft, da ihr hübsches Gesicht in eine Regenpfütze gedrückt wurde.
Sie hatte zwar noch versucht, sich mit Händen und Füßen zu wehren und wild gestrampelt, doch der Peiniger hatte seinen Fuß auf ihren Rücken gestellt – und der wog scheinbar eine Tonne.
Als ein Pflasterstein auf ihren Kopf niedersauste, spürte sie einen bislang noch nie erlebten Schmerz. Ein Teil ihres Hinterkopfes wurde trotz Kälte und Regens plötzlich ganz warm. Sie konnte nur noch wimmern und spürte ihren eigenen Puls im Ohr. Den zweiten, massiven Schlag hatte sie nicht mehr gespürt, die Gnade der Ohnmacht hatte sie übermannt. Beim dritten Schlag war sie tot. Die Regenpfütze füllte sich stetig mit ihrem Blut, und zwei Herzen hatten in diesem Moment aufgehört zu schlagen.